100 Jahre demokratische Stadtrechte Schüttorf

Die drei Stadtrechte Schüttorfs

Schüttorf hat seine Stadtrechte (mindestens) drei Mal verliehen bekommen. Erstmals ist dies vom 6. November 1295 als ein Akt des Grafen Ecbert von Bentheim beurkundet. 1465 erneuerte Graf Bernhard zu Bentheim das Privileg der Stadt Schüttorf. Und am 15. Juli 1924 beschloss das Preußische Staatsministerium, dass Schüttorf seine 1852 verlorenen Stadtrechte rückwirkend zum 1. Juli wiedererlangt hatte.

Diese Stadtrechte sind aber sehr verschiedener Art gewesen, und erst 1924 handelt es sich um Rechte für alle Schüttorferinnen und Schüttorfer im Sinne einer kommunalen Selbstverwaltung.

Die ältesten Stadtrechte waren ein Privileg des Grafen, der sich von einer Steuerfreiheit der mit Bürgerrechten ausgestatteten Schüttorfer – und das konnten seinerzeit nur Männer sein – einen lebhaften Handelsort versprach, von dem er profitieren konnte. Händler von Holz und Torf wurden von Abgaben befreit, Handwerkern wurde durch das freie Erbrecht der Aufbau eines Familienbetriebs ermöglicht. Aber diese Stadt war ein Raum der Freiheit nur für die Oberschicht, die den Ort verwaltete und die Gerichtsgewalt ausübte. Die sogenannten Weichbildleute waren von ihrem Wohlwollen abhängig, also Menschen ohne bürgerliche Rechte. Um Handwerker oder Händler zu werden, bedurfte es materieller Grundlagen und Wissens, und die Oberschicht wusste sich vor zu viel Konkurrenz zu schützen.

1465 wurden diese Stadtrechte erneuert und den stark veränderten Gegebenheit angepasst – Heinrich Voort hat über diese und die vorhergehenden sehr viel Wissenswertes zusammengetragen. Es ist im Jubiläumsbuch „700 Jahre Schüttorf“ und vielen Beiträgen in den Jahrbüchern des Heimatvereins der Grafschaft Bentheim nachzulesen.

Aus diesen Beiträgen wird auch deutlich, dass schon um 1465 auch ein Kampf Schüttorfs zur Verteidigung seiner Rechte einsetzte. Denn der Bentheimer Adel wusste die Vorteile seiner Handelsstadt an der Vechte zu schätzen, aber die Stadtgesellschaft wehrte sich gegen den Abfluss ihres bescheidenen Wohlstands und die Eingriffe von außen. In ganz Mitteleuropa fand damals eine allmähliche Organisation und Zentralisierung von Staatsgewalten statt, die lokale Untertanen vor allem als Quelle von Finanzen und Soldaten für die Armee, die wachsende Justiz und Staatsbürokratie sah. Der Konflikt zwischen dem Bentheimer Adel und der Schüttorfer Stadtpatriziat spielte sich in diesem Kontext ab.

Er wurde dramatischer, als die Bentheimer Grafen sich soweit verschuldet hatten, dass sie selbst ihre Loyalität an die Oberherrschaft des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg mit Herrschaftssitz in Hannover verpfänden mussten. Aus Hannover war die Grafschaft Bentheim lange Zeit ein Randgebiet, zumal das Kurfürstentum selbst bis 1837 nur der provinzielle Außenposten des englischen Königshauses war. Regiert wurde in London, wo ein Staatsrat auf das ferne Hannover blickte und die Grafschaft aus den Augen verlor.

Das änderte sich auch durch die Erhebung zum Königreich Hannover nach dem Wiener Kongress 1814 nicht. Ein Kennzeichen der bis 1866 regierenden Könige war eine Skepsis und Abwehr jedweder Modernisierung – für einen kleinen Handels- und Handwerksort wie Schüttorf war das eine Katastrophe. Weil die Aufwendungen für die eigene Stadt zunehmend die verfügbaren Mittel überstiegen, verlor man die Wirtschaftskraft als Quelle der Eigenständigkeit. Am 18. September 1852 wurde Schüttorf der Landgemeindeordnung unterstellt, weil die Mittel fehlten, um einen fachlich qualifizierten hauptamtlichen Bürgermeister und eine Polizei zu finanzieren. Schüttorf durfte sich weiterhin „Stadt“ nennen, war aber rechtlich keine mehr.

Nach dem ersten Weltkrieg mit der Spätfolge der Inflation, die im November 1923 ihren Höhepunkt erreichte, entschlossen sich die politischen Führungskräfte Schüttorfs zur Aktivität. Friedrich Kröner war der erste in einem demokratischen Deutschland gewählte Bürgermeister Schüttorfs – aber ein ehrenamtlicher, unterstützt nur von drei Ratsherren. Aus gesundheitlichen Gründen legte er sein Amt zum 10. November 1923 nieder, in einer Zeit, als sich die Preise für das Lebensnotwendigste täglich multiplizierten.

Ratsherr Johann Bernhard Schlikker trat die Nachfolge bereits „interim“ an, also im Vorsatz, sie nur stellvertretend auszuüben. Und in einem kleinen Husarenstück – und, das sollte man aus heutiger Sicht betonen, einem demokratischen Akt der Emanzipation – schrieb die Stadt Schüttorf den Bürgermeisterposten aus. Das heißt, dass man die politischen Machtprozesse umkehrte: Eine Stadt kämpfte in schwieriger Zeit darum, die eigenen Geschicke wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Dokumentiert wird dies auch durch die einigermaßen kuriose Abfolge der Ereignisse. Nicht nur wurde die Stelle ausgeschrieben, bevor es einen hauptamtlichen Bürgermeister gab. Sondern als der erfolgreiche Bewerber, Dr. Franz Scheuermann, etwa acht Wochen nach seinem Amtsantritt mit seiner Frau auf eine kurze Reise ging, wurde seine Probezeit in Abwesenheit kurzerhand für beendet erklärt. Er wurde also gewissermaßen genötigt, in Schüttorf zu bleiben, nachdem er einen guten Eindruck hinterlassen hatten. Er blieb, wie wir von ihm wissen, gern.

Nach seiner Rückkehr wurde die Schüttorfer Eigeninitiative auch politisch abgesegnet. Am 15. Juli stimmte die Landesregierung zu, und unterstrich mit der rückwirkenden Verleihung der Stadtrechte zum 1. Juli 1924 gewissermaßen, dass sie nur anerkannte, was längst geschehen war. Am 1. September 1924 erhielt Schüttorf ein Stadtstatut und konnte bald wählen. Und am 1. Oktober 1924 wurde die nach der Inflation sehr wichtige Sparkasse Schüttorf gegründet. Sie war ein symptomatischer Ausdruck der neuen, marktwirtschaftlichen Demokratie, denn die Spareinlagen der Schüttorferinnen und Schüttorfer bildeten die Grundlage für Kredite, mit denen die Wirtschaft angekurbelt werden konnte. Durch die Zinsen waren sie am Erfolg zumindest teilweise mitbeteiligt.

Die Stadt von 1924 umfasste auch die Frauen. Wer nach Schüttorf kommen wollte, musste sich die Freiheitsrechte nicht mehr ersitzen, erkaufen und von einer Obrigkeit als Privileg zugestehen lassen, sondern nahm sie als Inhaberin und Inhaber von Menschenrechten im Rahmen einer legitimen politischen Ordnung selbstbewusst wahr.

1933 erfuhr diese Errungenschaft eine jähe Unterbrechung. Sie endete mit der Ermordung von Verfolgten und den Opfern des Krieges, der Bombardierung und Zerstörung der Stadt. Schüttorf wurde in der Nacht zum 5. April 1945 von der nationalsozialistischen Herrschaft befreit, und am 22. Juni kehrte Dr. Franz Scheuermann zurück, um bald seine Arbeit wieder aufzunehmen. Diese traurige und bittere Periode von 1933 bis 1945 sollte alle Schüttorferinnen und Schüttorfer wachsam machen. Die lange Schüttorfer Stadtgeschichte belegt: Nationalismus sieht lokale Bevölkerungen immer nur als Untertanen ihrer Macht – und letztlich als Soldaten für ihre Kriege. Das Gegenmittel ist kommunale Demokratie.

Beitrag von: Dr. Jürgen Schraten